Ziel des Workshops war es, mentale Infrastrukturen in modernen Gesellschaften zu analysieren, die sowohl eine Voraussetzung als auch ein bestimmender Faktor für den Charakter und den Verlauf einer sozial-ökologischen Transformation sind. Wir haben uns gefragt, wie die grundlegenden Denkweisen, Einstellungen und allgemeinen Vorstellungen der Menschen von fossil-industriellen Infrastrukturen geprägt sind und wie sie sich im Zuge der Transformationen hin zu postfossilen, biobasierten Ökonomien verändern können und müssen. Wie einer der Teilnehmer, Éric Pineault, es ausdrückte: Fossile Infrastrukturen und Habitus spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des Möglichen und Unmöglichen.
Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen aus dem In- und Ausland bereicherten den Workshop. Sie nahmen in ihren Vorträgen Bezug auf Mentalitäten, Wertesysteme, Begehrlichkeiten, Verhaltensmuster und kulturelle Aspekte und betrachteten Gesellschaften und soziale Gruppen. Unterschiedliche Rahmenbedingungen, wie beispielsweise die politisch geförderte Energiewende oder Bioökonomie, gesellschaftliche Krisen oder der Kapitalismus wurden ebenfalls in den Blick genommen. So erhielten die Teilnehmer:innen des Workshops viele neue Aspekte und Ansätze für ihre eigene Forschungsarbeit.
Session 1 „Fossil Mentalities“
Es ist durchaus berechtigt zu sagen, wir lebten im Zement-Zeitalter. Denn Zement ist der weltweit meistverwendete Baustoff und ermöglichte die Verbreitung des Baumaterials Beton. Mit Beton geht auch eine fossile Vorstellungswelt einher, die beispielhaft in Thomas Edisons Traum vom ‚Haus aus einem Guss‘ deutlich wird. Plastische Materialien wie Beton ermöglichen es, die Welt nach Kapitalinteressen zu formen – sie schaffen Landschaften der Akkumulation.
Fossil-kapitalistische Gesellschaften haben trotz ihrer Selbstwahrnehmung als moderne, aufgeklärte Gesellschaften immense Schwierigkeiten, relevantes Wissen zu erkennen und zu operationalisieren. Diese blinden Flecken beziehen sich zum Beispiel auf Materialien, deren Lebenszyklus und Herkunft wir nicht kennen, oder auf die Illusion, wir seien von der Natur unabhängig. Diese Wissenslücken führen zu unbeabsichtigten (negativen) Folgen wie der Klimakrise oder des allgegenwärtigen Plastikmülls. Uns fehlt das Wissen vom Ursprung bzw. von der Synthese (syntytieteo): das Wissen, wie die Dinge (im Sinne von „Sache“, auch geistig) zusammenhängen. Mit Syntytieteo wüssten wir, woher Plastik im Alltag kommt, welche Wege es nimmt und wie wir negative Folgen von Plastikmüll vermeiden können.
Session 2 „Energy Transitions and Mentality Transformations“
Mit Hilfe der Cleavage-Theorie vergleicht Julia Zilles kollektive Identitäten und Mentalitäten bei Gegner:innen lokaler Energiewendeprojekte einerseits und bei Teilnehmer:innen von Fridays for Future und globalen Klimastreiks andererseits. Hierbei untersucht sie, wie beide Gruppen sich selbst und die jeweils andere wahrnehmen. Während sie sich in vielen Einstellungen gegenüberstehen, handeln beide Gruppen ihrem Selbstverständnis nach im Namen der Wissenschaft und für das Gemein- und Natur-/Umweltwohl und sind beidermaßen von der politischen Führung enttäuscht.
Die neoliberale Verneinung des Politischen führt zu einer Betonung von Kaufentscheidungen als letzter Sphäre individueller Kontrolle. Die neoliberale Bearbeitung der Nachhaltigkeitsproblematik – Einstellungen und Verhalten zu verändern – vernachlässigt soziale Strukturen, Rechenschaft, Verantwortung und die Frage, wie frei Kaufentscheidungen tatsächlich sind.
In zehn Fallstudien im Nordosten Italiens untersucht Alice Dal Gobbo, wie Menschen im Zuge der Covid-19 Pandemie ihre Begehrensstrukturen überdenken und umlenken. Die Frage nach dem „guten Leben” führt hier zu einer Reduktion materialistischer Aneignung, einem Anstieg freudebringender Zuwendungen und neuen, alternativen Energie-Konfigurationen.
Keynote „The enduring metabolic structures of fossil capital and the social ecology of the imaginaries advanced capitalism“
Éric Pineault weist darauf hin, dass fossil geprägte Mentalitäten stark davon beeinflusst sind, wie wir Energie betrachten bzw. welche Art, Menge und Verfügbarkeit von Energie wir als normal empfinden. Diese Vorstellungen und Erwartungen an Energie müssten sich an eine tragfähige Gesellschaft anpassen. Er stellt sich bei dem Gedanken an eine Transformation die Frage: Wie bringen wir Subsistenzpraktiken zurück in unser Leben?
Keynote „Desiring Energy: Toxic Fantasies of Fuel, Freedom, and Work“
Energie und Arbeit bzw. Beschäftigung hängen eng miteinander zusammen, zumindest nach unseren fossil-industriellen Vorstellungen. Moderne Energiekulturen bleiben so dem Extraktivismus verhaftet, da Arbeitsplätze, die Bedeutung von Arbeit und sozialen Rollen in Abhängigkeit von der Bereitstellung von Energie gebracht werden. Eine historische Auseinandersetzung mit Energie legt nahe, dass eine Veränderung unserer Brennstoffkulturen eine entsprechende Veränderung der (post)industriellen Arbeitskulturen und des westlichen Verständnisses von Freiheit erfordert.
Die Keynote wurde aufgezeichnet und kann hier angeschaut werden.
Session 3 „Mentalities and post-fossil transformation in Germany 2022: The BioMentalities study“
Um zu verstehen, welche Mentalitäten es in Deutschland gibt und wie diese mit den sozialen Positionen und Praktiken der Menschen zusammenhängen, führt flumen neben qualitativer auch quantitative Forschung durch. Dennis Eversberg und Martin Fritz stellen den Hintergrund, die Ziele und erste Ergebnisse von Umfragen vor, die flumen durchgeführt hat. Das Ziel der quantitativen Arbeit ist es, latente Dimensionen mentaler Infrastrukturen zu identifizieren. Es wird nach Mustern gesucht, die zeigen, wie Gefühle, Ansichten und Einstellungen in Beziehung zueinander stehen. Es werden insgesamt ca. 4500 Antworten aus Telefon-, Online- und Brief-Umfragen analysiert.
Session 4 „Bio-based practices and cultures“
Friedrich-Schiller-Universität Jena
In ihrer Untersuchung von Semi-Subsistenzlandwirtschaft in Estland beleuchtet Lilian Pungas Mentalitäten und Praktiken in der Datschakultur des postsozialistischen Landes, die in gängigen Diskursen zur Bioökonomie größtenteils unsichtbar sind. Lilian zeigt, wie Food Democracy im Kontext vielfältiger Krisen – vor allem bei der russischsprachigen Minderheit Estlands – entstand, darunter Umsiedelungen zur Zeit der UdSSR, die sozial-wirtschaftlichen Extreme der 1990er Jahre und die Covid-19-Pandemie.
In ihren qualitativen Studien untersuchen Sarah May und Lea Breitsprecher Bioökonomie als kulturellen Wandel in Innovationsunternehmen in den Holzbau- und Verpackungsbranchen.
Im Ergebnis zeichnet sich ab: bioökonomische Innovationen setzen an Organisationsstrukturen an. Wirtschaftliche und ethische Codes stehen in ständigem Aushandlungsprozess. Kulturelle Codes, die aus der Logik des Wirtschaftswachstums entstanden sind, hemmen ethische und bioökonomische Codes. Neue Räume für Bioökonomie existieren, in ihnen werden Pioniere der Bioökonomie jedoch mit bestehenden Märkten und fossilen Mentalitäten konfrontiert.
Session 5 „Bio-based modernities?”
In seiner Studie des Olivenanbaus in der spanischen Provinz Jaén untersucht Philip Koch die Rolle der Moderne für die Beziehung der Produzent:innen zu ihrem Land und ihren Anbaupraktiken. Er zeigt, wie Produzent:innen sich in den 1980er Jahren, ohne die Natur zu romantisieren oder zu idealisieren, pragmatisch an EU-Richtlinien anpassten, durch die Oliven zum profitabelsten Produkt der Region wurden. Während größere Betriebe Mechanisierung und Zentralisierung betonen, zielen kleinere Betriebe auf die Verbesserung der Qualität ihrer Produkte und eine größere Wertschätzung der Olive.
Nachwuchsgruppe BioMaterialities,
Humboldt Universität zu Berlin
Der Versuch, die Klimakrise durch digitale Technologien zu lösen, ist eine neuartige Strategie der Kapitalakkumulation durch Dekarbonisierung. Die epistemische Infrastruktur hierfür ist die „carbon metric“ (Anwendung des metrischen Systems bei der Ernennung der Dekarbonisierung als das höchste Ziel und als relevanteste Messgröße für die Bekämpfung der Klimakrise). In der Vergangenheit haben wir Kalorien gezählt, obwohl Kalorien letztlich wenig darüber aussagen, wie nahrhaft etwas ist. Nun zählen wir Kohlenstoff. Wir sahen den „Tod der Kalorienzählung“, brauchen wir den „Tod der CO2-Zählung“?
Short description
While it has become common sense that modern societies need a fundamental transformation of their energy and material infrastructures to achieve the decarbonization necessary to avoid climate disaster, we know little about the related transformation of mental infrastructures that this will necessarily entail. In the workshop, we want to analyze this dimension – not only to understand which forms of fossil mentalities hinder the necessary societal changes, but also to better understand how people’s basic mindsets, attitudes, and common imaginations change and need to change in the course of transformations toward post-fossil, bio-based economies. In this regard, it is equally important to take stock of the multiple ways in which the practically unlimited availability and steadily intensifying use of fossil fuels have shaped contemporary subjectivities as it is to discuss what the necessarily greater reliance of a post-fossil, bio- and renewable-based society, and the limits to their potential expansion, might imply for the constitution of an appropriate mental infrastructure.
There is a broad consensus that fossil fuels such as oil, coal and gas will soon become obsolete as energy sources and raw materials for industrial production: Their available stocks are limited and, more gravely, the greenhouse gases that are emitted when burning fossil fuels are a central cause of global warming and catastrophic climate change. One response to this problem is the search for biological and renewable resources that could serve as drivers of an emerging ‘bioeconomy’ and are hoped to make many hitherto fossil-based applications and products much more sustainable in the future. In our research group “flumen: mentalities in flux” at Friedrich-Schiller-University Jena we investigate the social preconditions and consequences of energy and resource transformations in which societies move away from the use of fossil fuels and other non-renewable resources and turn towards modes of production and living based on biological materials and renewable forms of energy. This workshop serves to discuss intermediate results with senior experts in the fields of sociology, history and the broader humanities, but also link them to ongoing key research on the questions of the relation between transformations at the material or socio-metabolic level of modern societies and in their mental or cultural dimensions.